Immer der Nase nach…

…wie der Geruch geräucherter Wurst nach einem halben Jahrhundert auf die Spur einer „vergessenen Familie“ führt.

  Da war sie wieder, meine Kindheitserinnerung, sie tauchte beim Einkauf in jeder Landmetzgerei auf: Ein Tag krank im Bett liegen, weil ich mich an Kirschen übergegessen habe, den Geruch der HO-Metzgerei im Erdgeschoss nach frisch geräucherte Wurst in der Nase. Oft erinnere ich Bruchstücke dieses Urlaubs in der DDR der frühen 60er Jahre und meinte zu spüren, dass dieser Ort irgendwo an der Saale, seine Menschen und eine Familie namens Meyer nicht nur für mich, sondern auch für meine Mutter und besonders für meinen Vater wichtig waren. Nur: Meine Eltern starben, als ich 12 Jahre alt war, mein Vater hatte keine Geschwister und die Geschwister meiner Mutter konnten sich auf meine Erinnerungsfetzen keinen Reim machen. Ich fand mich damit ab, dass es durchaus auch ein paar unbeleuchtete Stellen im Lebenslauf geben muss.
Bis… ja, bis der Familientag in Weimar nahte und mir gewahr wurde, dass die Saale ja gar nicht so weit von der Weimarer Ilm entfernt liegt. In alten Unterlagen meiner Eltern suchte und fand ich jetzt eine Adressliste von 1966 mit dem gesuchten Namen: Meyer in Saalfeld an der Saale. Dank Internet war das Haus, in dem ich die Ferien verbrachte, schnell gefunden, sogar eine Familie gleichen Namens in besagter Straße. Ich rief sofort dort an, allerdings hatten diese nichts mit den gesuchten Meyers zu tun. Dennoch: Mein Forscherdrang war entfacht und ich wühlte nach weiteren Akten und fand neue Spuren: Die Kopien eines intensiven Briefwechsels meines Vaters mit den Familien Meyer und Weiß, die ich mir nicht nur durchgelesen, sondern unter dem Aspekt der Familienzugehörigkeit durchgearbeitet habe. Ich bekam heraus, dass alle Saalfelder von der mütterlichen Linie meines Vaters abstammen, einige der Saalfelderinnen waren seine Cousinen und deren Kinder, auch ein Onkel von ihm lebte dort. Ich wusste jetzt, dass ich 1962 bei Vaters Cousinen zusammen mit meiner Mutter und meinem Großvater Urlaub machte und zu dieser Zeit bereits zwei Kinder der Familie Meyer in den Westen geflohen waren. Mein Vater, selber 1953 aus der DDR getürmt, traute sich erst 1965 wieder in die DDR zu reisen.
Mit diesen neuen Informationen hatte ich schon bessere Chancen in aktuellen Telefonbüchern nach verschollen geglaubten Verwandten zu suchen und wurde sofort fündig: Ich sprach mit einem Sohn der Familie Meyer, der völlig perplex war, dass sich nach mehr als 50 Jahren ein Nachfahre der Familie Kramß bei ihm meldet. Nach Telefonaten mit weiteren „neuen“ Verwandten kam eines zum anderen und wir vereinbarten ein Treffen in Saalfeld mit zwei meiner Verwandten und deren Ehepartnern. Es war unglaublich: Alle kannten meine Eltern und konnten einiges über sie berichten, aber wir sind uns, so haben wir herausgefunden, zuvor noch nie persönlich begegnet. Trotzdem haben wir so intensiv und offen geredet, als ob wir uns schon Jahrzehnte kennen würden. Neben den Erzählungen über meine Eltern war für mich besonders spannend, wie es sich in der DDR als Kind lebte, dessen Geschwister als „Republikflüchtlinge“ gebrandmarkt waren, wie sie die Wende erlebt und wie sie weiter gelebt und gearbeitet haben. Der offene und herzliche Empfang hat mich ahnen lassen, weshalb die „Saalfelder“ besonders für meinen geschwisterlosen Vater etwas sehr Wertvolles waren und ich konnte das Bild meines Vaters wieder etwas besser vervollständigen.
Erstaunlich war für mich, dass ich nicht nur mein „Forscherinteresse“ befriedigen konnte und dabei auf Verständnis stieß, sondern auch meine „neuen Verwandten“ bewegt waren und, wie sie mir mitteilten, selber über Vieles aus der Vergangenheit erneut nachdachten. Immer wieder überraschend finde ich, dass selbst eine lange stillgelegte und sehr indirekte Verwandtschaft eine Verbindung schaffen kann, die vertraute und persönliche Gespräche eröffnet, wie es sonst eher unter „alten Freunden“ möglich scheint.
„Immer der Nase nach“ dachte ich am Ende und habe meinen Saalfelder Verwandten einen wohlriechenden Marburger Landgrafen-Tee geschenkt, vielleicht lockt der sie eines Tages zu mir nach Marburg!
Jürgen Kramß