Reisetagebuch von Sophie Döhner, 1893 – Japan
„Die Überfahrt von Honolulu nach Yokohama dauert dem Datum nach 10 Tage, in Wirklichkeit nur neun, denn sobald wir am 22. September den 180. Längengrad passiert haben, wird ein Tag im Kalender überschlagen, um die Zeitdifferenz (4 Minuten auf jedem Grad) auszugleichen. Wir schlafen vom Freitag also gleich in den Sonntag hinein und haben Sonnabend, den 23. September, völlig eingebüßt. Das Wetter ist ununterbrochen wolkenlos sonnig, die See fast spiegelglatt, die Hitze aber ziemlich unerträglich. Meine Cajüte theile ich mit einer angenehmen, humoristischen amerikanischen Witwe. Es sind sehr viele Passagiere erster Classe da, darunter auch mehrere deutsche Herren; in dem einen entdecke ich einen Gefährten einer früheren Orientreise. Am Tische sitze ich zwischen lauter amerikanischen Missionaren und zwei weiblichen Ärzten, die nach China, Japan und Birma reisen; sie wissen gewiß viel des Interessanten zu erzählen, aber als echte Amerikaner sind sie nicht mitheilsam und geben nur knappe Antwort auf meine Fragen. Außerdem haben wir einen vornehmen Chinesen mit zwei Frauen, einem erwachsenen Sohn und einem Baby an Bord, das Amerika getauft ist, weil es in Washington geboren wurde, wo er Jahre lang Gesandter war. Die Frauen, in reich gestickte Gewänder gehüllt, können sich mit ihren verkrüppelten Füßchen wenig auf Deck bewegen; die Japanerinnen hingegen, die sich abwechselnd japanisch oder europäisch kleiden, verkehren sehr gern mit der Schiffsgesellschaft und sprechen geläufig Englisch. Im Zwischendeck sind mehrere Hundert japanischer und chinesischer Passagiere, die, nachdem sie genügend Geld im Ausland verdient haben, nun in ihr Vaterland zurückkehren.“
Am 29. September ankert unser Schiff „China“ weit draußen vor der großen Stadt Yokohama. „Bald umgibt uns ein buntes Gewimmel von Booten. Aus dem einen entsteigt eine Gesandtschaft vornehmer Chinesen, die unseren Minister begrüßen, indem sie sich bis auf den Boden vor ihm neigen und denselben mit der Stirn berühren: dann überreichen sie ihm ihre octavgroßen, rothen Visitenkarten-Bücher.
Endlich ist all unser Handgepäck in die Dampfyacht des Grand-Hotel gepackt und bald landen wir am Zollhaus, wo unser Gepäck einer leichten Revision unterworfen wird. Sofort sehen wir, dass wir in einer anderen Welt sind, ganz verschieden von unserer eigenen. Anstatt der Droschken stehen hier am Landungsplatz die coolies mit ihren jinrikisha’s, dem leichten zweirädrigen Wägelchen, das von ihnen selbst gezogen wird. Im schnellen Trabe führt mich ein solcher coolie mit muskulösen nackten Beinen, angethan mit blauem Leinenkittel und großem, pilzähnlichem weißen Hut, am Meer entlang nach dem schön gelegenen, ganz modernen Grand-Hotel. Dann geht es sogleich zum Consulat, wo ich mir eine Menge Briefe hole und mir einen Reisepaß in’s Innere bestelle, denn ohne einen solchen kann man weder ein Eisenbahnbillet bekommen, noch darf ein Hotelwirth uns anderswo als in den fünf Freihafenstädten aufnehmen; auch muß man bei der Bestellung sofort die genaue Reise-Route und –Zeitdauer angeben. Dann gab ich meine Empfehlungsbriefe ab und einer der Herren machte sodann gleich einen Orientierungs-Spaziergang mit mir nach den Bluffs hinauf, d.i. ein grüner Hügel, wo die Wohnungen der meisten Europäer liegen, die alle Aussicht aufs Meer haben.“
Bis zum 28. Oktober bereiste Sophie Döhner Japan. Auf Yokohama folgten die Städte Tokio, Kioto, Osaka, Kobe und Nagasaki. Sie wollte ein möglichst umfassendes Bild von diesem Land, seinen Schönheiten, den Lebensumständen der Menschen, der Traditionen, der Religion und der Geschichte gewinnen.
„Leider folgten nach der Ankunft in Yokohama zwei Tage völligen Regenwetters. Das Straßenleben bot freilich auch im Regen viel Originelles; da klapperten Männer und Frauen auf hohen, stelzenartigen Holzschuhen durch den Schmutz, die vielrippigen Schirme aus Bambus und Ölpapier aufgespannt, in Regenmänteln aus gelben Oeltuch oder aus langem Schilf. In den zurückgeschobenen Hauseingängen standen die Verkäufer und luden die Fremden höflich mit vielen Verbeugungen ein, näher zu treten und wer konnte der Versuchung widerstehen bei der verlockenden Waare, die sie so freundlich und preiswürdig anzubieten hatten. Japan ist für uns Europäer ein großer Curiositätenladen. Da sind die wundervollen Bronzen, die unzerstörbaren Lackarbeiten, die Porzellane, die in Elfenbein und Perlmutter ausgelegten Holzplatten, die graciös bemalten und bestickten Wandgehänge, die Seidenstoffe usw. Man hat hier Papier, Silber, Nickel und Kupfergeld, aber kein Gold.
Das japanische Papier ist sehr haltbar und wird meistens aus der Rinde des Papiermaulbeer-Baums hergestellt; das sog. Reispapier aus dem Mark einer Binsenart.“
„In Yokohama besuchte ich eine große Handelsgärtnerei, um specifisch japanische Pflanzen kennen zu lernen. … Ich sah dort auch jene klein gehaltenen, fast verkrüppelten 3-500 jährigen Nadelholzbäumchen, deren Zucht eine Spezialität der japanischen Gartenkunst ist, die überhaupt das Kleine im gedrängten Raume liebt. Dies Resultat wird erzielt, indem man den Baum alljährlich umpflanzt und stets die neuen Triebe abschneidet. … Auf dem Rückwege von hier … gelangte ich zum ältesten Tempel der Stadt, dem Zotokuin. Die große Glocke desselben ist aus metallenen Spiegeln gegossen: jedes japanische Mädchen bringt nämlich bei ihrer Heirath einen Spiegel mit ins Haus und dieser wird bei ihrem Tode einem Tempel gegeben. Viermal wird die Glocke angeschlagen und jeder Schlag bedeutet Anderes.
Der erste: Alle Dinge sind vergänglich! Der zweite: Dies ist das Gesetz des Lebens und des Todes! Der dritte: es gibt einen Zustand ohne Geburt und Tod, ohne Anfang und Ende! Und endlich der vierte: In diesem Zustand, erhaben über dem Wechsel, wirst Du die wahre Glückseligkeit finden!“
Besuch in einem Teehaus in Ikegami, berühmt durch seine alten Tempel: „Mit freundlichen Verbeugungen empfangen uns niedliche Mädchen und ziehen uns die Schuhe ab; man darf die feinen Matten, womit die Fußböden in Häusern und Tempeln bedeckt sind, nie mit Fußzeug betreten. Dann geht es treppauf, über offene Corridore, bis sie die Wände aus einander schieben und uns in ein Zimmer geleiten, wo wir hübsche Aussicht in eine grüne Schlucht haben. Bei dem Regen sind wir fast die einzigen Gäste und so sammelt sich bald eine ganze Menge Mädchen neugierig um uns. Zuerst bringt man zwei flache Kissen und nicht ohne Mühe gelingt es mir, mich auf denselben niederzulassen, aber ich bringe es doch nicht fertig mich kniend auf meine Hacken zu setzen. Mobilar ist in dem ganzen Raum nicht vorhanden, aber bald schleppen zwei einen kaum 6 Zoll hohen Tisch herbei, eine Ditte bringt ein Theebrett mit Theetopf und winzigen Schälchen, eine Vierte ein Metallnapf mit glühender Kohle und Pfeife, die so klein ist, daß nur zwei Züge zur Zeit daraus gethan werden können. Nun packen wir unser mitgebrachtes Frühstück (tiffin) aus. Neugierig sehen die Mädchen zu; ich fordere sie auf, mit zu essen, was sie ablehnen, aber nun ihr eigenes Essen holen. Es besteht aus Reis, Fisch, Eierspeise und allerhand fremden Dingen in winzigen Schälchen; sie bedienen sich zweier dünner Stäbe, hachi, um die Speisen zum Mund zu führen und zeigen mir lachend, wie ich es ihnen nachthun soll. Sie amüsieren sich, wie ich einen Apfel rund abschäle und verbeugen sich tief, als ich ihnen davon anbiete. Dann befühlen sie meinen seidenen Gummimantel, finden ihn wunderschön, und als ich ihre großen Gürtel, die 4 Meter langen , seidenen obis bewundere, wickelt die Eine den ihren ab, schmückt mich damit und hängt sich dafür meinen Mantel um, der ihr lang nachschleppt und in dem sie nun triumphirend einherstolziert. Es sind die reinen Kinder und so habe ich sie durchweg in ganz Japan gefunden.“
„Am 7. Oktober fuhr ich … nach der nur 40 Minuten per Bahn entfernten Hauptstadt Tokio, die erst seit 1868, wo die Residenz des wieder mit der allerhöchsten Macht ausgestatteten Kaisers hierher verlegt wurde, ihren alten Namen Yeddo abgelegt hat. Bekanntlich vereinte ursprünglich in Japan der Mikado, der von den Göttern abstammende Kaiser, die weltliche und geistliche Macht in seiner Person. Um 1191 jedoch usurpirte der Shiogun, der erste General, die Administration des Landes und fortan regierten seine Nachfolger dasselbe nach feudalen Grundsätzen, jedoch äußerlich immer noch als Vasallen des Mikado. Die bewaffneten Lehnsfürsten hießen Daimios, ihre Soldaten Samurai. … Als die Shiogune sich mit der Zeit allzu große Macht angemaßt hatten, empörten sich einige Daimios und traten mit ihren Truppen auf die Seite des Mikado. Die Partei der Shiogune unterlag im Kampf der Partei des Mikado. Ihr Amt wurde aufgehoben, der bisherige Schattenkaiser, den das Volk nie gesehen hatte, aus seinem Palast in Kioto befreit und im Triumpf nach Tokio geführt, und damit begann die neue Aera Japans. Die Schranken sind gefallen, die es einst gegen die Außenwelt abschlossen. Inzwischen hat es mit verblüffender Schnelligkeit europäische Einrichtungen im Militairwesen, in der Gesetzgebung , Erziehung u.s.w. sich anzueignen gewusst.
Tokio ist eine riesengroße Stadt mit fast 1 ½ Millionen Einwohnern. Es macht einen weit originelleren Eindruck als Yokohama, denn nur die Regierungsgebäude sind massiv aus Stein in europäischem Styl gebaut, alle übrigen Bauten, Wohnhäuser, Tempel, Theater sind aus Holz und nur einstöckig, eine Vorsichtsmaßregel, die durch die so häufig vorkommenden Erdbeben geboten ist. Wir (Sophie und eine californische Bekannte vom Schiff) haben in unseren jinriksha’s, die wir stets für den ganzen Tag mietheten, die Stadt nach allen Richtungen durchfahren.
Da wir gern ein japanisches Theater kennenn lernen wollten, besuchten wir eines Nachmittags das große Chintomiza-Theater, wo wir zwei Dollar für den Eintritt zahlen mussten. Dafür hätten wir von Morgens neun bis Abends zehn Uhr, – denn so lange dauern die Vorstellungen – dort sitzen und uns aus einem nahen Theehause während des Tages speisen lassen können. So machen es die Japaner, sie sitzen im Parterre in abgetheilten, viereckigen Kästen, die Platz für eine Familie bieten, auf der Matte: sämtliche Schuhe stehen und liegen im Vorraum in ganzen Haufen. Die Bühne ist wenig erhöht und setzt sich in zwei schmalen Gängen mitten durch die Zuschauerplätze fort. Auf diesen hanamichi kommen und gehen die Schauspieler. Die Hauptbühne ruht auf Walzen, und wenn ein Szenenwechsel nöthig ist, wird die ganze Geschichte samt den Schauspielern wie ein Caroussel umgedreht. Es werden abwechselnd historische oder Dramen aus dem täglichen Leben gegeben. Wir sahen ein Stück, in dem sehr viele Thränen, Mord und Todtschlag vorkamen und den Beginn eines anderen, in dem Knaben, die als Mädchen verkleidet waren, tanzten. Frauen spielen bis jetzt nicht auf der japanischen Bühne, doch hat eine Schauspielerin bereits den Anfang gemacht. Eigenthümlich auffallend war mir, dass zuweilen die Schauspieler nur Pantomimen machten und von einem erhöhten Sitz eine Art Chor unter Musikbegleitung den Charakter der Darstellenden erklärte.“
Nach vier Tagen in Tokio fuhren die beiden Damen im Zuge – diesmal in der 2. Klasse, um das Volksleben besser beobachten zu können – in 5 Stunden nordwärts ins Gebirge nach Nikkò, der einstigen kaiserlichen Nekropole, jetzt ein beliebter, kühler Sommeraufenthalt.
„Es waren ein paar japanische Herren im Coupés, die sich gegenseitig sehr höflich mit viel Verbeugungen behandelten, und einige ältere, verheirathete Frauen, die als solche an pechschwarz gefärbten Zähnen und ausgerissenen Augenbrauen kenntlich sind, eine Sitte, die den Zweck hat, sie für fremde Männer nicht mehr anziehend zu machen. Inmitten jeden Coupés steht ein Tischchen mit Wasserkessel, Theetopf, Thee und drei Schälchen; übrigens kann man auch an jeder Station einen mit frischem Thee gefüllten Theetopf nebst Schälchen für ungefähr 8 Pfennig kaufen und dazu saubere Holzschächtelchen mit gekochtem Reis und kleinen japanischen Delikatessen. Von der Station fahren wir in jinrikshas die einzige lange Staße Nikkò’s hinauf, die mit ihren Holzhäusern und dem Hintergrund der Berge an ein schweizer Dorf erinnert. Sie endet am brausenden Daya-gawa, den die berühmte rothe Lackbrücke hier überspannt, über die kein anderer menschlicher Fuß als der des Kaisers wandeln darf; dicht daneben ist aber die Allerweltsbrücke. Rechts auf der Höhe darüber liegt unser neues Kanaya Hotel. In unseren Zimmern stehen Näpfe mit glühenden Holzkohlen, hibachi, denn es ist schon herbstlich kühl hier oben. Bei Tisch erfreut das Auge sich an dem reizenden Arrangement der Blumen und Zweige herbstlich gefärbter Blätter auf der Tafel und in den Ecken, eine Kunst, die in Japan nach besonderen Regeln gelehrt und viel gepflegt wird.
Wo aber anfangen, wo aufhören, um Alles zu beschreiben, was wir am nächsten Tage sahen! Natur und Kunst haben sich hier die Hand gereicht, um ein so eigenartiges Ganzes zu schaffen, dass der Eindruck selbst auf den an andere Religionsbegriffe gewöhnten Europäer ein gewaltiger, Ehrfurcht erweckender ist.“