Von West nach Ost und wieder zurück

Meine Großmutter mütterlicherseits Lydia Gleske berichtet über ihr Leben und das ihrer Vorfahren. Ich habe ihren Vortrag 1978 anlässlich eines Familientages auf Band aufgenommen, meine Tante hat den Text weitgehend abgetippt.

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Kirchenchor in Kremianka 1910 mit meiner Großmutter und 2 ihrer Geschwister

Meine Großmutter, geboren 1894, erzählt die spannende Geschichte einer Familien-Odyssee von West nach Ost und zurück, von Schwaben über Russland nach Polen und wieder nach Westdeutschland – eine Wanderungs- und Fluchtgeschichte, die durchaus typisch ist für Familien des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn Erbteilung, wirtschaftliche Not und politischer Druck zum Verlassen der Heimat nötigen.

Zu Beginn des Vortrags – der allerdings in der getippten Version fehlt – geht es um die Gründe, warum eine schwäbische Familie im 18. Jahrhundert ihre Heimat aufgibt, nach Südpreußen und später nach Wolhynien umsiedelt. Meine Großmutter erzählt von ihrer eigenen Großmutter, ihren Eltern, die nach der Heirat 1877 eine neue Bleibe suchten und vom Leben der deutschen Siedlungs-Gemeinschaft Kremianka im Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts:

Lydia Gohl – Erinnerungen aus meinem Leben

Geboren bin ich am 4. März 1894 in Russland (Ukraine). Die Vorfahren meiner Eltern sind im 18./19. Jahrhundert aus Württemberg bei Stuttgart dort eingewandert. Sowohl die Vorfahren wie auch meine Eltern waren Bauern und besaßen eigene Höfe. Auch in der Ukraine hatten meine Eitern einen großen Bauernhof . Es lebten viele Deutsche in Wolhynien (Ukraine). Jedes Dorf war ein eigenes Gemeindewesen mit Schule, Dorfältesten und dergleichen.

Die Lehrer, ebenfalls Deutsche, lehrten deutsch und russisch. ln deutschen Dörfern wohnten nur deutsche Bauern und Handwerker, ebenso wohnten in den russischen Dörfern nur Ukrainer. Mit Russen hatten wir nur Umgang, wenn sie als Tagelöhner bei uns arbeiteten.

Von 10 Geschwistern war ich das zweitjüngste Kind. So wurde ich in einen großen Geschwisterkreis hineingeboren, habe in diesem Kreis meine Kindheit und Jugendzeit verlebt. Meine Eltern kamen aus der “Brüdergemeinde”, in der bekanntlich viel gesungen wird. ln diesem christlichen Sinn haben meine Eltern auch ihre Kinder erzogen. So wurden wir Kinder schon früh auf das eine, was “Not” tut, hingewiesen.

Meine Mutter konnte wunderbar Geschichten erzählen. Ob sie am Spinnrad saß oder mit einer Handarbeit beschäftigt war, immer hatte sie die kleine Kinderschar um sich versammelt, erzählte uns Märchen oder biblische Geschichten. Angefangen von Abrahams Auszug, von Joseph, dem Volke lsarael, bis hin zu Jesu Geburt in Bethlehem, von seinen Wundern, die er getan hat, von seinem Leiden und Sterben am Kreuz und von der Auferstehung am dritten Tag. Unsere Mutter konnte nicht nur gut erzählen, sie konnte auch sehr schön singen. Für jede Geschichte und jede Gelegenheit sang sie auch ein passendes Lied. Ein Buch brauchte sie dazu nicht, sie konnte die Lieder auswendig. So verlebte ich im Geschwisterkreis eine frohe Kindheit und sorgenfreie Jugend.

Als ich 6 Jahre alt war, heiratete meine älteste Schwester und verließ als erstes Kind das Elternhaus. ln Abständen folgten auch die anderen Geschwister und gründeten ihre eigene Familie. 5 Geschwister wanderten nach Deutschland aus und gründeten in Westpreußen ihre eigene Existenz.

Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, waren mein jüngerer Bruder und ich noch im Elternhaus. Mit Ausbruch des Krieges 1914 veränderte sich die Lage für die deutsche Minderheit in Russland wesentlich…”

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(Redaktion: Jürgen Kramß)