Washington

Aus dem Reisetagebuch von Sophie Döhner, 1893 – von Philadelphia über Washington, Boston, Montréal, Quebec zu den Niagara-Fällen

philadelphiaSophie Döhner beschreibt Philadelphia als eine Stadt, die, abgesehen von den drei Hauptstraßen, alle übrigen mit schlechten Pflaster und kleinen Häusern, keinen großstädtischen Eindruck macht.

Diese Stadt war 1682 von William Penn gegründet worden, nachdem er den Boden den Indianern abgekauft hatte.  „Sie war lange Zeit der wichtigste Ort nicht Pennsylvanien’s allein sondern der ganzen Union. Hier versammelte sich der Congreß, hier wurde die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten am 4. Juli 1776 erklärt, hier residirte der erste Präsident (George Washington, der General des Unabhängigkeitskrieges), hier blieb der Sitz der Regierung bis 1800, wo er nach Washington verlegt wurde. Manche Erinnerung an diese Zeit besteht noch, so das alte niedrige Gebäude Carpenter’s Hall, wo der erste Congreß stattfand, und das größere, ebenso alte Independence Hall, von dessen Stufen die Unabhängigkeit öffentlich proclamirt wurde. In derselben Straße liegt die U.S. Mint,wo die Silbermünzen geprägt werden; das Gold  wird in St. Francisco geprägt und die Papierscheine in Washington hergestellt. All diese Institute kann man täglich unentgeltlich besichtigen. Es ist überhaupt eine große Reise-Annehmlichkeit in Amerika, dass man nirgends wie in vielen anderen Ländern Erlaubnisscheine braucht; wo nicht officielle Führer, wie in den Münzen sind, kann man ungehindert, ungefragt, treppauf und –ab gehen, keine Controllmarke wird gegeben, kein Schirm wird abgefordert.“

Sophie Döhner fährt anschließend nach Washington und schildert zusammenfassend:
„Washington hat einen sehr günstigen Eindruck auf mich gemacht, es ist stiller und vornehmer als die großen Handelsstädte, obgleich es bei einer viertel Million Einwohner immer noch Leben und Bewegung genug zeigt. Man empfindet hier weniger die Jagd nach dem Dollar; es scheint als ob die idealen Interessen mehr zu ihrem Recht kämen, wovon unter Anderem auch die Corcoran-Gallerie ein Zeugniß ist, die ein Bankier dieses Namens gestiftet und der Stadt geschenkt hat. Sie enthält wundervolle moderne, meist französische Gemälde und Gypsabgüsse aller Meisterwerke der Antike.“

Boston, Canada, Niagara

boston„Am ersten Pfingsttage, den die Amerikaner nicht mit Ausflügen ins Freie zu begehen scheinen, fuhr ich von Washington nach New-York zurück, um von dort mich noch an demselben Nachmittage auf einem riesigen, dreistöckigen Dampfer nach Boston einzuschiffen. Ich hatte großen Genuß von der Fahrt, so lange es hell blieb. Lange noch saß ich auf Deck und freute mich des klaren Mondscheins; dann ließ ich mir von der Mulatten-stewardess eine Matratze in die Damencajüte legen und versuchte zu schlafen, was aber bei dem Schwatzen einiger Frauen und dem Geschrei der Kinder kaum möglich war. Nachts um 3 Uhr musste ich auch schon wieder heraus, da wir in Newport angekommen waren, dem fashionablesten Seebade der Nord-Amerikaner, wundervoll auf felsiger Höhe über der schäumenden Brandung gelegen.“

Ein Tag Aufenthalt genügte; in zweistündiger Bahnfahrt gelangte Sophie Döhner dann nach Boston, einer quirligen Stadt schon zu jener Zeit.  „Diese Stadt übertrifft mit ihrem riesigen Straßenverkehr noch New York. Hunderte von horse und electric cars  passiren fortwährend  und klingeln  zum Verrücktwerden. An meinem Hotel fuhren an den beiden Seiten täglich 2600 Wagen vorbei, wie es die Empfehlungskarten anpreisend hervorhoben! Nur in der vornehmsten, breiten, mit Bäumen bepflanzten Common wealth Avenue dürfen keine Straßenbahnen fahren. Bosten selbst ist auf einer Landzunge ins Meer gebaut und durch Meeresarme von South- und East-Boston getrennt; zwischen diesen drei Stadttheilen erstreckt sich der weite Hafen. Nach der Westseite verbindet eine mächtige Brücke über den Charles-Fluß mit Cambridge, der berühmtesten akademischen Stadt der Union. Hier ist die bereits 1638 gegründete nach ihrem Stifter benannte Harvard-University. Sie umfasst, in einem Park liegend, viele Gebäude, sogenannte dormitories, wo die Studenten wohnen können, dann viele Lehrgebäude für die  einzelnen  Facultäten, eine  herrliche Bibliothek, ein  Gymnasium, ein  Museum vergleichender  Zoologie, von  dem  berühmten  Agassiz  gegründet, der hier lebte, und eine riesige Memorial-Hall zum Andenken an die in den Revolutionskriegen Gefallenen, an die sich ein enormer Speisesaal und ein Theater schließen. Ungefähr 253 Professoren lehren hier, und die Zahl der Studenten beläuft sich meistens auf 2500, von denen 1400 im College selbst wohnen. Auch ein Frauen-College ist mit der Universität verbunden, doch können dieselben nur Philologie, Mathematik, Naturwissenschaften  und Sprachen studiren. Der Cursus dauert vier Jahre und müssen Examina vor- und nachher gemacht werden; aber auch für kürzere Zeit können Damen eintreten.“

montrealVon Boston ging es weiter mit der Eisenbahn nach Montréal in Canada. „Man freut sich, dass die elfstündige Fahrt, auf der man kein Wort gesprochen, ein Ende hat. … Bald bin ich im elegantesten aller Hotels, dem Windsor-Palast. Der mit Marmor getäfelte, mit reizenden Wandmalereien gezierte Speisesaal nimmt die ganze Breite des Hauses im 1. Stock ein, an 40 Einzeltischen bedienen 40 Keller, die förmlich militairisch geschult sind. Ein breites, elegantes Foyer trennt diesen Saal von einer ganzen Reihe sogenannter parlors, alle so luxuriös wie möglich möblirt, mit kostbaren Gemälden und Statuen; hier finden abends Concerte statt. In den drei anderen Flügeln sind die einfacher ausgestatteten Schlafzimmer, in denen wie überall in Amerika niemals Seife und Briefpapier fehlen.“ Im Untergeschoß (= Erdgeschoss) gibt es viele Geschäfte, ein Herren-, Rauch- und Lesezimmer, ein Café, einen Friseur und ein prachtvolles Damenzimmer. „Jegliche Nebenausgabe fällt weg, auch die des Weines, denn der Amerikaner hält es für disreputable, in einem Hotel bei Tisch sich Wein zu bestellen; man trinkt Wasser, Limonade, Milch oder ice-tea, und nie fehlt Caffee.

Montréal ist eine schöne Stadt, die einen vornehmen, ruhigen Eindruck macht. Ursprünglich war hier eine Niederlassung der Irokesen-Indianer; 1535 kam der erste Franzose Jaques Cartier hierher und benannte den Berg, an dem dieselbe lad, Mont Royal. 1642 kamen die ersten französischen Ansiedler und nannten ihre neue Stadt Ville Marie; nach und nach wurde der heutige Name Montréal daraus, den auch die Engländer beibehielten, als sie 1760 in Besitz derselben kamen. Früher war Montréal der Haupthandelsplatz für Pelzwaaren aus dem ganzen Norden und noch heute ist es der Haupt-Hafen Canada’s und der Ausgangspunkt der großen Canadian-Pacific-Bahn nach Vancouver, deren Scenerie mit den berühmtesten schweizer und norwegischen Gebirgsparthien an Großartigkeit wetteifern kann. Die Bevölkerung ist vorwiegend katholisch und könnte man Montréal die Stadt der Kirchen und geistlichen Institute nennen.“

Nach einigen Tagen der Besichtigung folgte ein Besuch der nahe gelegenen berühmten Stromschnellen (Rapids) des St. Lawrence, … „durch die nur eine schmale Passage führt, welche die Schiffer den treibenden Holzstämmen abgelernt haben. Da der aufwärts fahrende Dampfer diese Rapids durch einen Schleusencanal umgeht, dessen Langeweile mir später fühlbar genug wurde, so benutzte ich einen kleinen, abwärts fahrenden Dampfer, um das Vergnügen des Hinabschießens kennen zu lernen; aber wer eben erst den Ocean gekreuzt hat, findet dies bischen Schaukeln nicht so, wie das Reisebuch sagt: ein Gefühl, schrecklich dem Aengstlichen, belebend dem Tapferen. Abends fuhr ich dann stromabwärts die Nacht hindurch nach der alten Hauptstadt Canada’s Quebec, die sich malerisch auf felsiger Höhe über dem Strom aufbaut. Nur drei Thore führen aus der oberen Stadt, die außer zwei breiten Hauptstraßen nur aus einem Gewirr enger Gassen mit niedrigen, kleinen Häusern besteht, vor denen ein schmales, hölzernes Trottoir entlang läuft, denn der Fahrweg ist zu Fuß fast unpassirbar, ein wahrer Morast. Man fühlt sich hier wieder weit in die Vergangenheit zurückversetzt, wo es keine Eile und keine Straßenbahnen gab. Und doch hat die Stadt auch prachtvolle, moderne Bauten, wie das neue canadische Parlamentsgebäude, und die Laval-Universität, und steigt man auf steiler Treppenstraße hinab in die untere Stadt, so ist man wieder im regen Verkehr der Neuzeit, denn hier sind die großen Docks und Fabriken und überall am Ufer sieht man riesige Holzvorräthe aufgestapelt. Ich ging zu Fuß über die Abraham’s Plains dorthin, jener Ebene, wo die Entscheidungschlacht zwischen den Franzosen und Engländern um den Besitz Canada’s gefochten wurde.“

niagara1Sehr schön ist auch die weitere Umgebung Quebec’s, die Sophie teilweise mit der Eisenbahn erkundete. Viele neue Erlebnisse, Wanderungen durch die schöne Natur, Überwinden mancher Widrigkeiten, führten zu folgendem Resümee: „Schön war es aber doch da oben mit dem weiten Blick auf den von Bergen umsäumten Strom und mir ein eigenes Gefühl, so ganz allein in einem anderen Welttheil, in einer canadischen Landschaft umherzustreifen, wo doch die Natur dieselbe wie bei uns , dieselben Bäume und Sträucher und Frühlingsblumen, Veilchen, Anemonen, Vergißmeinnicht , Sumpfdotterblumen. Mögen die Menschen in ihrer Art uns in fremden Ländern oft wenig anmuthen und wir ihnen als Fremdlinge gegenüberstehen, in der freien Gottesnatur da fühlen wir uns überall heimathberechtigt! Und auch das Unwandelbare in der Natur ist es, was so ans Herz greift; so hat es hier ausgesehen, als noch die wilden Irokesen das Land besaßen, so wird es bleiben, was auch für Völker sich als Eroberer folgen. Und die Sonne Homers, siehe, sie leuchtet auch uns!

Niagara, den 3. Juni 1893.


niagara_blacque_jacques„Ein wundervoller Tag heut! So entzückt bin ich selten gewesen, diese Fälle sind wirklich ein Naturwunder von überwältigender Größe! Trollhättan in Schweden ist wundervoll, aber gegen diese Niagara-Fälle doch nur ein Miniaturschauspiel; diese benehmen Einem den Athem, treiben die Thränen in die Augen und lassen im Herzen ein Jubellied tiefster Dankbarkeit ertönen, dass es so große Wunder der Natur gibt und dass es uns vergönnt worden ist, sie zu schauen. … Der Ort Niagara besteht fast nur aus Verkaufsläden, Vergnügungslocalen und Hotels; ich war im Hotel Kaltenbach abgestiegen, das einen deutschen Wirth hat, und freute es mich, hier einmal wieder Landsleute zu finden, mit denen man sich in der Muttersprache unterhalten konnte. Die Meisten kamen von Chikago oder wollten dorthin, wie ich es auch in den nächsten Tagen that auf einer entsetzlich langen 15-stündigen Eisenbahnfahrt durch furchtbar monotone Gegend.“

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