Aus dem Reisetagebuch von Sophie Döhner , 1893 – Chikago
Chikago, Juni 1893, beherbergte damals den World’s Fair, die Weltausstellung. Sophie Döhner blieb 14 Tage in Chikago, „denn in kürzerer Zeit ließ sich kein auch nur einigermaßen genauer Überblick gewinnen“. Sophie Döhner hatte bereits im Jahr 1889 die Weltausstellung in Paris besucht und konnte nun kritische Vergleiche ziehen. Sie sah in den Weltausstellungen einen Wettbewerb der Nationen und suchte sich ein Bild zu machen über die Stärken der einzelnen Länder. Sie war stolz auf Deutschland: „Und da muss ich freudig bekennen, und allgemein wurde es auch anerkannt, dass wir Deutschen in Wirklichkeit eine der weit vorgeschrittensten Nationen auf allen Gebieten der Wissenschaft, Kunst und Industrie sind. … Neu und originell war in diesem Fair das Women’s Building, von Frauen-Architekten entworfen und decorirt: nur Frauen-Arbeiten jeglicher Art enthaltend und große Räume für eine öffentliche Kochschule, Bibliothek und die vielen Frauen-Versammlungen. Die Frauen reden hier ungemein viel öffentlich; zwei der Damen in meiner Pension gehören dem Preßclub und verschiedenen Comités an, haben fast nie einen Moment Zeit zu ruhiger Unterhaltung, interessiren sich für Nichts, was außerhalb ihrer Sphäre liegt, und wissen oft vom Nächsten nichts, was sie umgiebt. Mir scheint ihre große Geschäftigkeit oft ziemlich nutzlos, die vielen Frauenblätter zumal, in denen sie hauptsächlich für das Wahlrecht kämpfen, weil doch die Frauen dieselbe Intelligenz wie die Männer besitzen. Um nun recht drastisch klar zu machen, wie niedrig diejenigen die Frauen taxiren, die ihnen das Wahlrecht streitig machen, hat sich die schöne Hauptverfechterin desselben portraitiren lassen, umgeben von den vier nicht wahlberechtigten männlichen Typen: einem Idioten, einem Wahnsinnigen, einem Sträfling und einem Indianer! Und dieses eigentümliche Bild hängt nun überall.“
Vom Zentrum der Stadt schildert sie folgende Eindrücke: „Da sah ich denn so recht, welch’
eine nur nach augenblicklichen Bedürfnissen, nicht nach einheitlichem Plan entstandene Stadt Chikago ist; zwischen enggebauten Verkehrsstraßen liegen große, noch ganz unbebaute Flächen; neben himmelhohen, vielstöckigen Geschäftshäusern winzig kleine, leicht transportable Holzhäuschen, die fix und fertig mit vier Stuben nur 200 $ kosten. Der Hauptverkehr der Riesenstadt koncentrirt sich auf die Straßen in der Nähe des Hafens; den Mittelpunkt für die Geschäftswelt bildet der Board of Trade, ein großes Gebäude, zu dessen Gallerien man Zutritt hat, und wo ich auch einem Actien-Verkauf zusah, bei dem die Männer sich wie wilde Tiere benahmen und gerade so wie diese heulten und schrieen. In der Nähe sind all’ die großen Geschäftsgebäude: the Rookery, 12 Stock hoch, das 2500 Bewohner fassen kann, the Chamber of Commerce, 14 Stock, the Women’s building, 16 Stock, und andere mehr. All’ diese Häuser imponiren einzig nur durch ihre Höhe, wirklich schön ist nur die City Hall, die aber so dunkel ist, dass überall elektrisches Licht brennen muß, und außen auch bereits so rauchgeschwärzt und schmutzig, wie Alles hier aussieht. Man athmet erst wieder frei draußen im schönen grünen Lincoln-Park am Seeufer, wo sich außer einigen hübschen Monumenten amerikanischer Größen auch ein Standbild unseres Schiller befindet, den man hier aber skeiler ausspricht. In dieser Gegend sind die schönen Villen der reichen Leute inmitten schattiger Gärten.
Einer der Hauptexport-Artikel Chikago’s ist bekanntlich Fleisch in rohem und conservirtem Zustande. So habe ich mir denn auch die Union Stock Yards angesehen, einen ganzen Stadttheil, in den verschiedene Eisenbahnen münden, die das lebende Vieh bringen und das geschlachtete nachher transportiren. Es sind 18 Firmen dort, von denen ich die von Swift besuchte, deren eisgekühlter Transporteisenbahnwagen mich schon im Fair sehr interessirt hatte. Der Führer geleitete uns zunächst in die office, wo 200 Commis arbeiteten und dann in den Raum, wo die Ochsen geschlachtet wurden, die ein Mann tötet, indem er ihnen mit einem scharfen, kleinen Hammer einen Schlag vor die Stirn gibt, so dass sie sofort umfallen und dann in einen anderen Verschlag gezogen werden, wo ihnen der Kopf abgehauen wird. Dort ist ein wahres Blutbad, auf das man von einer Gallerie herabsah. Grässlicher noch war das Abstechen der Schweine. …. Insgesamt werden täglich 5 000 Ochsen und 10 000 Schweine und einige Tausend Hammel geschlachtet und verarbeitet. .… Es ist also ein Betrieb im großartigsten Maßstabe, und freute es mich, denselben gesehen zu haben, aber ich war froh, als ich wieder im Freien war. Am Nachmittage belohnte ich mich mit einem ästhetischen Anblick; ich war im Auditorium-Theater und sah dort ein großes Ausstattungsstück: Amerika mit prachtvollem Ballet, bei dem oft 400 Personen zugleich auf der Bühne waren, oder auch eine ganze Schaar Pferde; die Handlung war gleich Null.“
Am 20 Juni verließ Sophie Döhner Chikago, wo sie es vor Hitze kaum mehr ausgehalten hatte, die ihr tagsüber den Besuch der Ausstellung erschwerte und sie nachts im engen Zimmer kaum schlafen ließ. „In drei Stunden fährt man von Chicago nach dem ebenfalls am Michigan-See gelegenen Milwaukee, der Hauptstadt Wisconsin’s, deren Bevölkerung fast zur Hälfte aus Deutschen besteht. Dem zufolge giebt es hier die größten, deutschen Bierbrauereien, deren eine mit einem großen Vergnügungs-Etablissement verbunden ist. Von der Lage der Stadt bekam ich nur einen schwachen Begriff, da dichter Nebel die Aussicht verdeckte.
Um 9 Uhr abends bestieg ich den von Chicago kommenden Zug nach St. Paul, wo mein Bett im Pullman-car im Voraus bestellt, bereits gemacht und breiter und höher war, als ich erwartet hatte. Das Aus- und Anziehen ist aber ein Kunststück, da man nicht ein Zoll breit Platz neben dem Lager hat, wo der öffentliche Gang ist, von dem man nur durch einen Vorhang getrennt ist; kein Haken ist zum Aufhängen der Kleidung da, so muß man Alles zu Füßen aufpacken wo es entsetzlich staubig wird, weil man der Hitze wegen das Drahtgitter des Fensters immer etwas offen läßt. Morgens an die Waschtoilette zu gelangen, ist auch nicht gerade angenehm, denn da in diesem Schlafwagen Herren und Damen merkwürdiger Weise keine getrennten Abtheilungen haben, sondern pêle-mêle durch einander placirt werden, so streift das Auge im Vorbeigehen manche nicht gerade salonfähige Toilette bei den in dieser Hinsicht sehr ungenirten, sonst so leicht Anstoß nehmenden Amerikanern.“St. Paul, die große erst seit 1837 entstandene Hauptstadt Minnesotas am Mississippi, hinterließ bei Sophie Döhner „sogleich einen sehr angenehmen Eindruck mit ihren breiten, schönen Straßen, prachtvollem court-house und hohen, großen Geschäftshäusern. Das Straßenbahnnetz soll eins der besten der Welt sein und dabei unglaublich billig.“ Eine morgendliche Fahrt mit einem kleinen Dampfer auf dem Mississippi, der erst ab hier schiffbar wird, „wahr eine stille, traumhafte Fahrt zwischen grünbewaldeten, mittelhohen Ufern, im Fluß viele Stämme treibend, die im Frühjahr als Flößholz herabkommen. Nachmittags fuhr ich in anderer Richtung noch weiter hinaus nach dem großen White-Bear-Lake, wo noch vor kaum 30 Jahren die Sioux- und Dakota-Indianer gehaust, deren Race nun so vollständig von der weißen verdrängt, ja fast ausgestorben ist. Auf dem Rückwege mussten wir über eine halbe Stunde auf einen entgegenkommenden Wagen warten, und wunderte ich mich wieder, wie die Amerikaner, die doch sonst nie Zeit haben, so geduldig bei solchen Anlässen sind, da raisonnirt keiner wie bei uns.
Am nächsten Tag, den 22. Juni, fuhr ich nach der 10 miles entfernten Schwesterstadt St. Paul’s Minneapolis, ebenso schön angelegt wie diese, ebenso mit einzelnen himmelhohen Häusern. … Minneapolis ist der größte Mehl producierende Platz der Welt; 24 große Mühlen werden durch die Wasserkraft der Fälle im Mississippi (wo das Wasser mit reißender Schnelligkeit herabstürzt) im Sommer getrieben, die im Winter durch Dampf ersetzt wird. Es glückte mir gerade, den time-keeper einer solchen Mühle anzureden und zu fragen, ob ich nicht eine besichtigen könnte; er nahm mich gleich mit und zeigte mir Alles so eingehend wie möglich: ich musste bewundern, wie sinnreich die Maschinen erdacht sind und wie vollkommen sie ihre Aufgabe erfüllten. Der Weizen muß durch viele Mühlen hindurch, ehe er vollständig gereinigt zum feinsten, weißesten Backmehl wird. Der Chemiker untersucht täglich jede Mehlart und lässt von jeder ein Brod zur Probe backen, damit stets die Qualität sich gleich bleibt. Ich sah wie das Korn vom Elevator direct in die Mühle geleitet wird; in diesen hohen Aufbewahrungsräumen, wo ungeheure Massen Korn lagern, wird es in fortwährender Bewegung erhalten, um es vor Feuchtigkeit und Entzündung zu bewahren. Auch der feinste Mehltstaub entzündet sich so leicht von selbst, daß 1888 eine ganze Mühle hier auf diese Weise explodirt ist; … zuletzt sah ich, wie durch Maschinen das Mehl fest in Säcke gestampft wird. Sehr befriedigt setzte ich mich in eine electric car und fuhr weit hinaus nach zwei hübschen Seen, wie es deren hier viele gibt, reizend von Wald umgeben, wo vergnügte Menschen lagerten und der Musik aus einem nahen Pavillon lauschten, während kleine Ruderboote die klare Wasserfläche belebten.
Um 8 Uhr abends bestieg ich den Zug der Northern Pacific-Bahn, den ich erst nach 38 Stunden in Livingston verließ.“ Auf dem Weg dorthin durchfuhr die Bahn die beiden Staaten Dakota und Montana. Von der Bahn sah man nichts als flache, endlose Prairie mit niedrigem Graswuchs, kein Baum, kein Strauch. „Am zweiten Morgen früh kamen die ersten Berge in Sicht, theils mit Schnee bedeckt, und wir fuhren lange am rauschenden Yellowstone-River entlang; um 9 Uhr waren wir in Livingston, wo die eigentliche Fahrt in den Yellowstone-Park, dem Wonderland of the World, wie die Amerikaner es zu nennen belieben, erst beginnt.
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