In Polen wollten wir eigentlich nur radeln..

…eine Schlingertour zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Von Jürgen Kramß

Alles fing ganz harmlos damit an, dass ich das Buch „Fahrradreisen an deutschen Flüssen“ als Anregung für unseren Sommer-Aktivurlaub mitbrachte. Meine reiselustige Frau nahm die Anregung gleich auf, allerdings ein wenig abgewandelt: Wir buchten eine organisierte 10tägige Fahrradreise von Danzig an die Masurischen Seen und legten den Flug so, dass vorher noch ein paar Tage in Warschau und nachher ein paar in Masuren die Reise ergänzten. Eines Abends legte meine Frau eine Polenkarte auf den Tisch, markierte den Ort Bydgoszcz und riet mir, doch einmal genauer hinzuschauen. Tatsächlich: Der Ort – ausgesprochen wird er „Bidgoschtsch“ – liegt halbwegs zwischen Warschau und dem Beginn unserer Radtour in Danzig. Aber was war schon Besonderes an dem ehemaligen Bromberg, aus dem meine Familie mütterlicherseits stammt und mit dem ich so gar nichts zu tun hatte? So glaubte ich zumindest. Doch dann ließ es mich nicht mehr los. Schon am nächsten Morgen organisierte ich einen Leihwagen, mit dem ich unbedingt einen Abstecher nach Bydgoszcz-Bromberg zum Geburtsort meiner früh verstorbenen Mutter unternehmen wollte. Sollte unser geplanter Aktivurlaub jetzt um den Aspekt der Familien-Geschichte erweitert werden? Geschichte als Urlaubsergänzung?

Noch ahnte ich nicht, wohin die Reise wirklich ging.

Warschau – Sind wir als Deutsche überhaupt willkommen?

Warschauer AufstandWir kamen in den letzten Augusttagen 2014 in Warschau an, bezogen eine kleine Dach-Ferienwohnung mitten in der historischen Altstadt und wunderten uns über die vielen Ausstellungen, Installationen und barrikadenmäßigen Kunstobjekte im Straßenraum: Warschau gedachte des 70. Jahrestages des Aufstandes – nicht dem der Juden im Ghetto, sondern dem der polnischen Bürger gegen die deutsche Besatzung. Die Erinnerungstafeln in den Straßen lasen wir mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Der Aufstand, der vom 1.8. bis zum 1.10.1944 andauerte, wurde zerschlagen, 15.000 Widerständler und 150-220.000 Zivilisten ermordet und als Vergeltung über 100.000 Warschauer als Zwangsarbeiter verschleppt oder in Konzentrationslager verbracht und die gesamte Innenstadt dem Erdboden gleich gemacht.

Warschauer Marktplatz 1944
Warschauer Marktplatz 1944

Nach dem Krieg bauten die Warschauer ihre Stadt wieder nach alten Plänen auf. Die wunderschönen barocken Bauten sind in Wirklichkeit Nachkriegs- Rekonstruktionen. Neben dem Respekt vor dieser Aufbauleistung der Polen in kargen Zeiten beschlich uns als Deutsche immer wieder ein Gefühl von Fassungslosigkeit und Nachfolge-Verantwortung. Wie uns die Polen wohl heute sehen? Und das noch kurz vor dem 75. Gedenktag des deutschen Überfalls auf dieses Land am 1.9.1939? Und konnte es sein, dass meine Mutter und ihre Familie im 300 km entfernten Bromberg davon nichts mitbekommen hatten?

Entgegen aller Bedenken wurden wir überall sehr zuvorkommend behandelt, hatten immer das Gefühl, willkommen zu sein und mein Bemühen, mit ein paar polnischen Sprachbrocken einzukaufen, wurde von den Einheimischen freundlich unterstützt. Als interessierte Touristen waren wir überall gern gesehen. Warum dies so war, hatte auch noch einen anderen Grund, aber davon später.

Warschuer Marktplatz 2014
Warschauer Marktplatz 2014

Bromberg – Stilles Glück oder blutige Vergangenheit?

brom2Nach zwei Tagen in Warschau ging es mit dem Leihwagen nach Bydgoszcz – und immer tiefer in die deutsch-polnisch-russische Geschichte hinein. Auch diese ehemalige Industriestadt wurde und wird noch an vielen Stellen schön renoviert, hat einladende Plätze, Fußgängerzonen, Spazierwege an den Ufern der Brahe und gastfreundliche Restaurants. In unserem liebevoll restaurierten Hotel „Bohema“ lag eine Broschüre aus, in der die ehemalige Besitzerin lebhaft von den 20er Jahren erzählt, als dieses Haus noch ein Wohnhaus war, unter dessen Dach einträchtig Polen, Juden und Deutsche wohnten und die alle von den Wirren und Schrecken der Naziherrschaft und des Krieges eingeholt wurden. Als dieses Gebäude 2003 ein Hotel wurde, berichtet die mittlerweile betagte Dame froh und stolz, dass dieses Haus endlich seine eigentliche Bestimmung als Wohnstatt für Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen wiedergefunden habe.

brom1Wir verließen unser Hotel, bestens ausgestattet mit Informationen und Suchaufträgen meiner Tanten und meines Onkels. Wir suchten die alten Orte ihrer Kindheit auf: Schule, Kindergarten, Kirchen, Plätze, Nachbarhäuser und das alte Wohnhaus, das meine Tanten genau 30 Jahre zuvor noch besuchen konnten, jedoch nach der Wende einem modernen Wohnhaus weichen musste. Ich war  bemüht, mich ein klein wenig in das Bromberg meiner Mutter, Großmutter, meiner Tanten und meines Onkels hineinzuversetzen. Was musste aber in meiner Tante vorgegangen sein, als sie selbst, 40 Jahre nach ihrer Flucht, vor dem damals noch intakten Haus stand? „Wie oft habe ich gegrübelt, wie alles aussah“, schrieb sie 1984 in ihrem Reisebericht. „Nun stand ich da und hatte alles vor mir, was ich so liebte und meine Kindheit ausmachte. Es ist ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Es ist, als ob sich der Kreis des Lebens schließt und alle Lücken, die darin waren, sind plötzlich geschlossen…Dort der große Garten, in dem wir wunderbar gespielt haben. Wie viele Jahre haben wir hier in häuslichem, stillen Glück verbracht – aber auch sehr schmerzliche. Auch daran musste ich denken, als ich die lang gezogene Mauer des Hauses sah, an der wir am Blutsonntag zum Erschießen aufgereiht stehen mussten. Wie durch ein Wunder und die Fürsprache unserer polnischen Mieter sind wir diesem Inferno entkommen.“ Da ist sie wieder, die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts und meine Familie – mitten drin. Der „Blutsonntag“: Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1.9.1939 zieht sich die polnische Armee nach Süden zurück. In Bromberg geht das Gerücht um, deutsche Einwohner schießen von Kirchtürmen, worauf hin eine Art polnische Bürgerwehr am 3.9. bewaffnet wird und viele Deutsche, insbesondere Männer, wahllos ermordet. Es kommt nach neueren Forschungen von Prof. Markus Krzoska (Uni Gießen) zu mehr als 400 getöteten Deutschen, die Hitler-Propaganda macht daraus 58.000 getötete „Volksdeutsche“ und nutzt dies als nachgeschobenes Argument zur Besetzung Polens. Wenige Tage später marschiert die Wehrmacht auch in Bromberg ein. Meine Großmutter und ihre vier Kinder – der Mann ist bereits verstorben – sind zunächst glücklich über diese „Befreiung“ der deutsch-polnisch besiedelten Stadt Bromberg, in der die Kinder jetzt auch nicht mehr das ungeliebte Polnisch in der Schule sprechen müssen.

Eine Odyssee – Was hat das alles mit Weltgeschichte zu tun?

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Kirchenchor in Kremianka 1910 mit Großmutter und 2 ihrer Geschwister
Wie kam die Familie meiner Großmutter nach Bydgoszcz-Bromberg und wovor floh sie überhaupt? Hier die Kurzfassung (es gibt auch einen  ausführlichen Bericht zum Hören und Nachlesen) einer Odyssee: Meine Vorfahren verließen wegen wachsender Steuerabgaben, Kriegsfolgen, Missernten und Erbteilungen ihr schwäbisches Heimatland und siedelten sich Anfang des 19. Jahrhundert im deutschen Südpreußen an, das in Folge der politischen Veränderungen jedoch bald dem Königreich Polen unter russischer Oberhoheit zugeschrieben wurde. Als auch hier das Land zu knapp und den deutschen Kolonisten der Landkauf erschwert wurde, zogen meine Urgroßeltern 1877 weiter ins russischen Wolhynien, der heutigen Ukraine. Dort, in Kremianka, wurde 1894 meine Großmutter geboren. Als Folge des 1914 beginnenden 1. Weltkrieges wurden alle Wolhynien-Deutschen nach Sibirien deportiert. Während der russischen Revolution 1918 floh meine Großmutter vom sibirischen Omsk nach Westpreußen und ließ sich in der Nähe ihrer Brüder in das deutsche Bromberg nieder, das ein Jahr später durch den Versailler Vertrag wiederum Polen zugesprochen wurde.
 

Die Geschichte einer Flucht endete jedoch hier noch nicht: Nach der von meinen Tanten als glücklich und weitgehend unbeschwert erlebten Kindheit und Jugend im nun wieder deutschen Bromberg brach  wieder Krieg aus und die ganze Familie floh unter abenteuerlichen Umständen vor der sowjetischen Armee nach Westen und landete schließlich in Hannover. Eine meiner Tanten fand in den 50er Jahren Arbeit in Stuttgart – und schloss so den Familienkreislauf wiederum in Schwaben.

steinSchon oft hatte ich die Geschichte meiner Familie gehört, aber noch nie war sie mir so nah wie in Polen und ich war plötzlich motiviert, mich noch genauer nicht nur mit der Familiengeschichte, sondern auch mit den politischen Hintergründen zu beschäftigen, denen meine Vorfahren ausgesetzt  waren. Als wir mit dem Fahrrad gen Masuren radelten, waren wir nicht nur der russischen Grenze zum Greifen nahe, sondern wandelten im ehemaligen Ostpreußen, aus dem auch ein Teil meiner Familie väterlicherseits stammt und die ebenfalls von dort fliehen musste. Zu meiner Verwunderung gab es hier einige alte, ehemalige deutsche Gutshäuser, Hinweisschilder auf ostpreußische Vergangenheit und in Fromborg (Frauenberg) sogar einen Gendenkstein für verfolgte und verstorbene deutsche Flüchtlinge zu sehen. Je weiter wir nach Osten kamen, desto öfter berichtete unser polnischer Reiseführer von Zerstörung und Unterdrückung durch sowjetische Soldaten am Ende des 2. Weltkrieges. Und überhaupt, ganz Polen gedachte im September noch eines weiteren Ereignisses: Am 17.9.1939 besetzte die Sowjetunion den Ostteil Polens und errichtete dort eine im wahrsten Sinne mörderische Herrschaft.
Mit unserem Reiseführer Czarek und unserem Gepäck-Busfahrer Jarek sowie mit einigen anderen Polen kamen wir immer wieder über Geschichte ins Gespräch, besonders über die Rolle der Russen, die bis 1989 Polen fest im Griff hielten und gegen die auch die Solidarnosc Bewegung zu Beginn der 80 Jahre zunächst keine Chance hatte. Die  russische Annektierung der Krim, ihre Unterstützung der Ostukraine und die andauernden Handelsembargos gegen polnische Waren befördern die Abwehr und die Angst vor dem Nachbarn im Osten. Diese Abwehrbereitschaft war auch real zu sehen: Wir beobachteten auf unserer Fahrradreise einige Militärübungen und Panzerverlegungen gen Osten.
Besetzung und Beherrschung Polens durch die Sowjetunion liegen nicht weit zurück, die Befürchtung eines neuerlichen Einmarsches lebt in vielen Polen weiter. Vielleicht liegt hierin auch ein Grund, warum wir Deutschen heute als Freunde und nicht als ehemalige Okupatoren gesehen werden können.

Masuren – Sehnsuchtslandschaft oder zukunftsträchtiges Einwanderungsland?

rad1Ach ja: Eigentlich wollten wir nur radeln, uns Städte anschauen und Landschaften genießen. Und das taten wir auch: Wir erfreuten uns der wieder aufgebauten Städte Warschau und Danzig, bewunderten die Umgestaltung von Bydgoszcz und restaurierte Städte wie Thorn, Fromborg und die Marienburg. Mit dem Fahrrad entdeckten wir abseits großer Straßen Naturlandschaften, romantische Seen, abgelegene Dörfer, Trakehner-Gestüte und Kleinstädte, genossen die schier grenzenlose Weite und entdecken den Zauber der masurisch-ostpreußischen Landschaft. see1„Ein Sommer in Masuren: Land ohne Eile“, so drückt es der Journalist Tobias Lehmkuhl aus.  “Sehnsuchtslandschaft“ nennt es die Ostpreußin und ehemalige „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff. Sie beschreibt 1941 in ihrer Biografie „Namen, die keiner mehr nennt”: „Die Landschaft ist unvergesslich schön. Echtes Masuren, so wie wir es von unseren Paddeltouren her kennen: wenig Wald, viel Wasser, sandige Wege in einer unendlich weiten Hügellandschaft, rote Dächer und ein lichtblauer, wolkenloser Himmel darüber“. Uns ist, als schriebe sie es heute.

krutyn1Am Ende unserer vom polnischen Reiseveranstalter „Natur Travel“ bestens organisierten und betreuten Fahrradtour blieben wir noch ein paar Tage länger im 230 Seelen Dorf Krutyn, in einem Hotel mit Zimmerausblick auf den romantischen Fluss, auf dem ab und an ein Stocherkahn plätscherte. Und dort begegnete uns eine andere Wanderungsgeschichte, diesmal von West nach Ost: Die polnischen Besitzer unseres Hotels „Masur/Syrenka“ wanderten 2004 mit ihren erwachsenen Töchtern und dem deutschen Ehemann der älteren Tochter vom schwäbischen Nürtingen zurück nach Masuren, renovierten eine heruntergekommene Ferienanlage, eröffneten Hotel, Restaurant und einen Campingplatz und sind in Krutyn so erfolgreich, dass sogar das deutsche Fernsehen eine Sendung über die Familie drehte. „Man denkt bei Polen oft noch an Grau, an irgendwelche Bauten noch aus kommunistischen Zeiten. Und wenn man hier ist und sieht, was tatsächlich ist, ist man relativ schnell überzeugt“, so Ellen Schurmann, die ältere Tochter, die als gelernte Hotelfachfrau ihren Traum eines eigenen Hotels verwirklichen konnte. „Es ist ein bisschen wie eine heile Welt, es ist einfach idyllisch“.krutyn2

Ja, auch das ist Polen 2014, eine Oase der Ruhe inmitten turbulenter Weltgeschichte

– und allemal eine Reise wert.